Digitale Reformation: Warum wir die Cloud neu denken müssen

Digitale Reformation: Warum wir die Cloud neu denken müssen
By Matthias Petermann / on 31.10.2025

Digitale Reformation – ein Gedanke zum 31. Oktober

Der 31. Oktober markiert den Reformationstag – ein Symbol für Erneuerung, Selbstbestimmung und den Mut, etablierte Strukturen zu hinterfragen. Was Martin Luther einst mit Thesen an eine Kirchentür nagelte, war kein Angriff auf den Glauben selbst, sondern auf ein System, das sich zu weit von seinen Wurzeln entfernt hatte.

Ein ähnlicher Moment ist in der IT erreicht. Unsere digitale Infrastruktur, einst als offenes, dezentrales Netz konzipiert, hat sich zu einem Geflecht zentraler Abhängigkeiten entwickelt – verwaltet von wenigen globalen Anbietern, unterlegt mit komplexen Schichten, Policies und Zertifikaten. Eine Reformation ist überfällig.


Wie aus Dezentralität wieder Zentralisierung wurde

Das Internet wurde ursprünglich so entworfen, dass es selbst einen Atomschlag überstehen kann. ARPANET, der technische Vorläufer, beruhte auf einem einfachen Prinzip: Wenn ein Teil des Netzes ausfällt, übernehmen andere Knoten den Datenfluss. Pakete finden neue Wege – unabhängig von zentralen Steuerstellen. Diese Architektur war robust, resilient – und zutiefst dezentral.

Heute ist von diesem Prinzip wenig geblieben. Dienste, die global erreichbar sind, laufen auf wenigen Rechenzentren, gesteuert von zentralen Control Planes. Selbst „Multi-Cloud“- oder „Hybrid“-Ansätze sind meist nur Cluster zentralisierter Infrastrukturen, die auf andere Anbieter abstrahiert werden. Die einstige Netz-Resilienz wurde auf der Infrastrukturebene aufgegeben – und stattdessen versuchen wir, sie auf Applikationsebene künstlich zu rekonstruieren.

ℹ️ Aktuelle Ereignisse zeigen die Folgen

Die vergangenen Wochen haben das eindrücklich gezeigt. Am 24. Oktober 2025 kam es bei Amazon Web Services (AWS) zu einem großflächigen Ausfall in der Region us-east-1. Ein Fehler im internen DNS- und Automatisierungssystem führte dazu, dass zahlreiche abhängige Dienste – von Handelsplattformen bis hin zu Streaming-Anbietern – stundenlang gestört waren. In manchen Medien wurde der wirtschaftliche Schaden auf mehrere Dutzend Millionen US-Dollar pro Stunde geschätzt.

Nur wenige Tage später, am 29. Oktober 2025, war Microsoft Azure betroffen. Eine fehlerhafte Konfigurationsänderung im Dienst Azure Front Door führte weltweit zu Unterbrechungen – inklusive Beeinträchtigungen bei Microsoft 365, Xbox Live und Minecraft. Eine einzige zentrale Routing-Komponente genügte, um große Teile des globalen Ökosystems zu beeinträchtigen.

Beide Vorfälle verdeutlichen: Selbst in angeblich georedundanten, hochverfügbaren Cloud-Umgebungen können zentrale Fehler weitreichende Folgen haben. Die Abhängigkeit von wenigen Anbietern schafft systemische Risiken – unabhängig von Architektur oder Skalierungsgrad.


Das ursprüngliche Versprechen der Cloud – und was davon blieb

Als die Cloud populär wurde, war ihr Versprechen verführerisch einfach: Freiheit, Effizienz und Skalierbarkeit.

1. Freiheit von Infrastruktur

Die Cloud sollte uns von physischer Infrastruktur befreien. Keine Server mehr kaufen, keine Rechenzentren mehr warten, keine nächtlichen Wartungsfenster.

„Wir übernehmen den Betrieb – du konzentrierst dich auf dein Produkt.“

Doch diese Freiheit wurde erkauft. Heute kümmern wir uns weniger um Hardware, aber mehr denn je um Konfiguration, Policies, Kostenkontrolle und Integration. Der physische Server verschwand – die Komplexität blieb.


2. Effizienz durch geteilte Ressourcen

Die Cloud versprach bessere Ressourcennutzung durch gemeinsame Infrastruktur. Das klang ökonomisch und ökologisch sinnvoll: Mehr Auslastung, weniger Verschwendung. Doch die Effizienzgewinne landen beim Anbieter, nicht beim Nutzer. Wir teilen Ressourcen – und Risiken.


3. Skalierbarkeit und Agilität

„Scale up in seconds“ – das war das Mantra. Jedes Startup sollte in Minuten global deployen können. Und technisch stimmt das auch. Aber Skalierung kam mit einem Preis: Abhängigkeit von proprietären APIs, Preismodellen und Toolchains. Wer einmal integriert ist, kommt kaum wieder weg.


4. Abstraktion als Befreiung – und als Falle

„Du musst nicht wissen, wo dein Code läuft – nur, dass er läuft.“ Dieser Satz fasst die Cloud-Philosophie perfekt zusammen. Doch was als Befreiung gedacht war, führte zur Entkopplung von Verantwortung. Infrastruktur wurde zum blinden Fleck. Wir vertrauen Verträgen (SLAs) statt Architektur – und ersetzen technische Resilienz durch organisatorische Zusagen.


5. Fazit – ein gebrochenes Versprechen

Versprechen Realität
Freiheit von Betrieb Abhängigkeit von Control Planes
Effizienz durch Teilung Effizienzgewinn beim Anbieter
Skalierbarkeit für alle Skalierung nur im Ökosystem des Anbieters
Sicherheit durch Zentralisierung Neue systemische Risiken
Abstraktion von Infrastruktur Verlust von Kontrolle und Transparenz

Die Cloud hat uns Komfort gebracht, aber Souveränität gekostet. Bequemlichkeit wurde zum neuen Vendor Lock-in.


Die Symptome: Wenn Komplexität Normalzustand wird

Statt einfache, verlässliche Systeme zu bauen, haben wir eine Schicht aus Verwaltung geschaffen:

  • Container, um unkontrollierte Deployments zu kapseln.
  • Orchestratoren, um zu viele Container zu verwalten.
  • Service Meshes, um den Verkehr zwischen Pods zu beobachten.
  • Observability-Stacks, um den Überblick über all das wiederzuerlangen.

Jedes Werkzeug löst ein Problem, das durch das vorherige erst entstanden ist. Wir bekämpfen Symptome, anstatt Ursachen zu beheben. Das Ergebnis ist eine Infrastruktur, die sich zwar orchestrieren, aber kaum noch verstehen lässt.


Die eigentliche Ursache: Disziplin statt Tooling

Der Ursprung des Problems liegt weniger in der Technologie, sondern in der fehlenden Disziplin und Standardisierung in der Softwareentwicklung. Anstatt reproduzierbare, deterministische Systeme zu bauen, haben wir gelernt, Komplexität zu kompensieren.

Fehlende Reproduzierbarkeit wird mit „CI/CD“ kaschiert, fehlende Architekturdisziplin mit Microservices, fehlende Kontrolle mit „as Code“-Paradigmen. Doch kein noch so ausgeklügeltes Deployment ersetzt die Grundprinzipien solider Systemarchitektur: Einfachheit, Trennschärfe, Nachvollziehbarkeit.


Reformation statt Verwaltung

Wenn Luther seine Thesen heute formulieren würde, hingen sie nicht an einer Kirchentür, sondern an den Portalen der Cloudanbieter. Die Botschaft wäre dieselbe: Zurück zu den Grundlagen. Zu einer Infrastruktur, die dezentral denkt, autonom funktioniert und reproduzierbar bleibt.

Moderne Thesen für eine digitale Reformation:

  1. Resilienz entsteht nicht durch Verträge, sondern durch Autonomie.
  2. Ein Netzwerk ohne Zentrum ist nicht angreifbar.
  3. Komplexität ist kein Fortschritt.
  4. Jede Node muss allein bestehen können.
  5. Reproduzierbarkeit schlägt Geschwindigkeit.
  6. Sicherheit entsteht durch Isolation, nicht durch Vertrauen.
  7. Datenhoheit ist kein Komfortthema, sondern Voraussetzung.

Dezentrale Zukunft: zurück zum Netz, nicht zur Wolke

Eine echte Reformation der Infrastruktur beginnt dort, wo Systeme wieder eigenständig funktionieren können – nicht nur auf Anwendungsebene, sondern bis hinunter zur Netz- und Orchestrierungsschicht. Denn Autonomie, die von einem zentralen Scheduler, API-Gateway oder Control Plane abhängig ist, bleibt eine verwaltete Freiheit – technisch gesehen eine Form zentraler Abhängigkeit.

Das bedeutet nicht, dass Werkzeuge wie Kubernetes oder Service Meshes per se schlecht wären – sie lösen reale Probleme in komplexen Umgebungen. Doch sie tun das, indem sie Koordination zentralisieren und dadurch die Selbstständigkeit der einzelnen Knoten einschränken. Eine Node, die ohne zentrale Steuerung nicht mehr starten, kommunizieren oder replizieren kann, ist nicht autonom – sie ist ein Satellit.

Deshalb braucht es ein Umdenken. Architekturen sollten so gestaltet sein, dass einzelne Einheiten – sei es ein Service, eine Edge-Instanz oder ein Gerät – auch unabhängig vom Cluster bestehen und operieren können. Nicht als Selbstzweck, sondern als Ausdruck von Resilienz und Kontrolle.

Drei Prinzipien beschreiben diesen Weg:

  1. Autonome Knoten statt orchestrierter Abhängigkeiten: Systeme sollten so konzipiert sein, dass jede Komponente ihren Betrieb selbst initiiert, verwaltet und bei Bedarf repliziert. Zentralisierte Scheduler oder Control Planes können unterstützen – sollten aber keine Voraussetzung sein.

  2. Reproduzierbarkeit und Transparenz als Standard: Jede Komponente muss deterministisch baubar und nachvollziehbar sein. Vertrauen entsteht nicht durch Zertifikate, sondern durch überprüfbare Zustände.

  3. Offene, portable Ausführungsumgebungen: Technologien wie WebAssembly (WASM) zeigen, wie sich Code sicher und plattformunabhängig ausführen lässt. In Verbindung mit sicheren Sprachen wie Rust entstehen isolierte, modulare Einheiten, die sich leicht verteilen und reproduzieren lassen. (Siehe dazu meinen Artikel zu Rust und WASM)

Diese Prinzipien lassen sich schrittweise auch in bestehenden Umgebungen umsetzen – ob in hybriden Clouds, Edge-Szenarien oder verteilten Unternehmenssystemen. Der entscheidende Punkt ist nicht, ob etwas „Cloud“ oder „On-Premise“ ist, sondern ob es im Notfall allein lauffähig bleibt.

So entsteht technische Souveränität: Systeme, die sich vernetzen können – aber nicht müssen. Infrastruktur, die verteilt funktioniert – ohne zentralen Dirigenten. Und eine Architektur, die nicht auf Kontrolle, sondern auf Kooperation beruht.


Von der Cloud zur Souveränität

In einem solchen Modell ist jede Node ein souveränes digitales Wesen: eigenständig, aber kooperationsfähig. resilient, aber nicht isoliert. sicher, aber transparent.

Damit wäre die Cloud nicht abgeschafft – sie würde endlich ihrem ursprünglichen Zweck gerecht werden: ein Netz aus Knoten, die sich gegenseitig tragen, anstatt voneinander abhängig zu sein.


„Nicht die Cloud selbst war der Fehler – sondern, dass wir ihr vertraut haben, anstatt ihr Prinzip zu verstehen.“


Fazit

Die digitale Reformation beginnt nicht mit neuen Tools, sondern mit Haltung. Wahre Resilienz entsteht durch Dezentralität, nicht durch Komplexität. Technische Souveränität heißt, Verantwortung wieder dorthin zu bringen, wo sie hingehört: in die Architektur selbst.

Am Reformationstag erinnern wir uns daran, dass Erneuerung immer dort beginnt, wo jemand bereit ist, Fragen zu stellen, die andere längst für beantwortet hielten.